Woran denken Sie, wenn Sie an „Aller-heiligen“ denken? Für Familien und jüngere Menschen ist es nun schon seit längerer Zeit eine kleine Ferienzeit, die Möglichkeit, eine letzte Woche Urlaub zu machen. Für viele andere ist es der nachmittägliche Besuch der Friedhöfe, das Gedenken an den Gräbern der eigenen Verstorbenen. Und eine kleinere Gemeinschaft trifft sich vormittags in den Kirchen zu feierlichen Gottesdiensten, um aller Heiligen der Kirche zu gedenken. Ein Fest unter vielen. Doch für mich steckt hinter Allerheiligen noch viel mehr, eine besondere Perspektive auf das Geheimnis des Lebens und der Kirche. Das ist mir vor 36 Jahren auf den letzten Metern unserer Wallfahrt nach Santiago de Compostela aufgegangen. Und das ging so:
Es war der letzte Kilometer einer langen Fußwallfahrt, gute 900 Kilometer lagen hinter uns. Zu einer Zeit als noch wenige Menschen nach Santiago de Compostela unterwegs waren, waren wir im französischen St. Jean Pied-Du-Port aufgebrochen, acht Studierende samt Studentenpfarrer Florian Schuller von der Augsburger Hochschulgemeinde. Viel hatten wir auf diesem Weg erlebt und viele kluge Gedanken ausgetauscht, aber ganz besonders waren wir in den letzten Wochen zu selbstbewussten Pilgern geworden. Wir waren gut unterwegs auf dem Jakobsweg wie im Leben und wir waren stolz darauf, so weit gekommen zu sein. Das war schon eine tolle Leistung, von der wir zuhause würden viel erzählen können.
Und wir freuten uns schon, in die Kathedrale einzumarschieren, in den Altarraum hinaufzusteigen und die Jakobusfigur von hinten zu umarmen – und damit das Ziel zu erreichen.
So waren wir vor der Kathedrale in Santiago angekommen. Die Abendsonne tauchte die barocke Fassade in gleißendes goldenes Licht, wir siegen die Treppen hoch und traten durch das Tor in dämmriges Zwielicht ein. Als sich die Augen an dieses Licht gewöhnt hatten, wurde mir deutlich: Wir standen nicht in der Kirche, sondern in einer Vorhalle. Und wir waren plötzlich Teil einer Szene, eines Wunderwerkes, das Meister Mateo um 1180 geschaffen hatte. Vom Gewölbe herab begrüßte uns ein im Himmel thronender Christus mit ausgebreiteten Armen umgeben von der Schar der Apostel. Und wir waren mittendrin!
Apostel, Heilige, Propheten – sie umstanden uns von allen Seiten. Eine große Gemeinschaft aller, die auf den Wegen Gottes seit Jahrtausenden unterwegs waren. Und wir waren dabei!
Gut, dass es vor dem großen Ziel der Wallfahrt zur Kathedrale von Santiago noch eine Vorhalle zum Innehalten gibt. Mach‘ Dir bewusst, was Kirche ist, bevor Du eintrittst! Eine große Gemeinschaft all derer, die auf den Wegen Gottes unterwegs sind durch die Jahrtausende, die die Wege Jesu gehen, die Wege von Gerechtigkeit und Vertrauen, der Barmherzigkeit und der Versöhnung, die Wege des Friedens – in guten wie in schweren Zeiten. Eine gewaltige Gemeinschaft von Menschen, die darauf vertraut haben und vertrauen, dass Gott ihr Leben in der Hand hält, dass sie sich nicht sorgen müssen, weil sie nicht weiter fallen können als in seine Hand. Und Du als Pilger hast Dir das „nur“ besonders bewusst gemacht. Bedenke das, wenn Du eintrittst, und bedenke es auf Deinem Weg zurück nach Hause.
Allerheiligen – wenn wir Kinder und Erwachsene taufen, dann beten wir vor der Weihe des Taufwassers immer zuerst die Allerheiligenlitanei. Im Taufbuch fällt sie sehr kurz aus, aber es ist gute Tradition, diese um die Namenspatrone der Familie zu ergänzen. Und da ist sie wieder – die Botschaft aus Santiago: die Kirche, eine große Gemeinschaft von Menschen auf dem Weg durch die Zeit. Denn wenn wir die Namenspatrone erwähnen, erinnern wir uns zuerst an die Menschen, von denen wir abstammen. Wir verdanken uns nicht uns selbst, sondern stehen auf den Schultern unser Vorfahren, wir gehen in den Fußspuren von Eltern, Großeltern und vieler Generationen vorher.
Über diese irdische Familie hinaus stehen wir auf den Schultern derer, die ihr Leben im Glauben vor uns gelebt haben. Wir gehen in den Fußspuren unserer Vorbilder, die vor uns auf Gottes Zusagen gebaut und vertraut haben, die mutig für ihre Überzeugungen eingestanden sind, die ihr Leben riskiert haben für die Idee von Gottes Liebe in dieser Welt, für Barmherzigkeit, Versöhnung und Frieden. An diese Gemeinschaft der Heiligen erinnere ich mich morgens in der Kirche und an meine Familie am Nachmittag am Friedhof. Und ich bin ein Teil dieser beiden großen Geschichten, die in eine münden: meiner Familie und der Heilsgeschichte Gottes mit allen Menschen in dieser Welt. Und für Menschen aus beiden Geschichten werde ich dieses Jahr
Kerzen anzünden – an Allerheiligen 2024.
Robert Ischwang, Diözesan-Altenseelsorger