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Alles ist möglich!?

Und schon wieder beginnt ein neues Jahr! Gerade erst haben wir wieder ein ganzes Jahr mit vielen Erlebnissen und Erfahrungen hinter uns gebracht und schon beginnt ein neuer Abschnitt in unserem Leben. So stehen wir an der Schwelle zu etwas Neuem und manche blicken sorgenvoll voraus: Was wird da auf mich zukommen? In der Welt, in unserem Land, im eigenen Leben – wird alles gut werden? Wird alles gelingen? Werde ich meine Ziele erreichen? Gerne und oft zitiert man dann aus dem Markusevangelium, was Jesus bei der Heilung eines besessenen Jungen gesagt hatte: „Dem, der glaubt, ist alles möglich!“ (Mk 9,23). Also auf ins neue Jahr, nichts ist unmöglich, alles geht – zumindest für den, der wirklich glaubt?!

An dieser Schwelle zum Neuen – mit ihren Gefahren und Möglichkeiten – kommt mir ein besonderes Bild, ein Blick in den Sinn, der Blick des Mose vom Berg Nebo: Mose ist fast am Ziel, nach einem langen Leben sieht er von den Höhen das gelobte und verheißene Land vor sich. Drunten im Tal schlängelt sich der Jordan schon weit unter dem Meeresspiegel durch eine wüstenhafte Landschaft. Am Rande glitzert schon das Nordende des Toten Meeres, gegenüber erheben sich die von Schluchten durchzogenen Höhen der judäischen Berge und inmitten des Bildes liegt Jericho wie eine große Oase mit seinen Palmen und Bäumen, grün und lebendig. Und nun nach biblischen 40 Jahren der Wüstenwanderung von der Flucht aus Ägypten bis zu diesem Tag steht Mose an der Schwelle zum Neuen Land, dem Ziel seiner Lebensreise, einem Leben zwischen Unmöglichkeiten und Möglichkeiten.

Vieles ist gelungen, was nach menschlichem Ermessen unmöglich schien: Als Baby wird er im Nil ausgesetzt und von einer Ägypterin aus dem Wasser gezogen, in der Wüste sieht er einen Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt und aus dem Jahwe zu ihm spricht. Obwohl er sich nicht für einen Anführer hält, soll er das Volk Israel aus der Knechtschaft herausführen. Doch der Pharao weigert sich lange, die Israeliten freizulassen. Auf der Flucht setzt der Pharao mit seiner Armee dem Volk Israel nach, holt es ein und treibt es am Schilfmeer in eine Falle ohne Fluchtmöglichkeiten. In der Wüste gehen ihnen Nahrung und Wasser aus. Am Berg Sinai angekommen hat das Volk genug vom Warten auf Mose und Gottes Weisung und bastelt sich ein eigenes Leitbild. Wenn nun Mose am Berg Nebo auf das zurückblickt, was hinter ihm liegt, dann kann er tatsächlich sagen: Ich habe in meinem Leben so viel Unmögliches erlebt. Doch im Vertrauen auf den einen Gott mit dem eigenartigen Namen „Ich bin da“ oder „Ich werde mich erweisen“ ist alles tatsächlich möglich geworden. Ja, wer glaubt und vertraut, dem scheint nichts unmöglich.

Und jetzt, auf dem Berg Nebo, steht Mose kurz vor seinem großen Ziel, das gelobte Land zum Greifen nahe. Trotz seines hohen Alters scheint das nun überhaupt nicht mehr unmöglich, es ist nicht mal mehr eine Tagesreise. Doch er wird nicht hinübergehen! Das letzte Erreichen seines Zieles bleibt ihm versagt! Mose wird dort oben seine Lebensreise beenden – scheinbar unvollendet.

Gerade für Menschen, die auf Gott vertrauen, kann so eine Erfahrung ein schwerer Schlag sein! Warum nicht? Warum trifft es gerade mich? Warum macht es mir Gott nicht möglich? Glaube und vertraue ich zu wenig? Schon die Weggefährten des Mose spekulieren darüber, ob er eine Sünde begangen habe und nun zur Strafe nicht vollenden kann, was er sich vorgenommen hatte. Doch ist unser Gott ein solcher Gott?

Ich bin der Überzeugung, dass wir – wie Mose – auf die Perspektive achten müssen – und genau unterscheiden, was meine eigenen Ziele sind und was die Ziele Gottes mit mir sein könnten. Aus der Perspektive des Rückblicks auf unser Leben ist es gut, zu erkennen: Vieles war eigentlich unmöglich, hier und dort haben sich unerwartete Wege geöffnet, ja – mit Gott war vieles möglich! Ich glaube, das ist das Besondere eines Rückblicks auf ein langes Leben, mir die Momente vor Augen zu bringen, in denen ich erfahren habe: Gott hat mich begleitet, er war mir nah, er hat beinahe Unmögliches möglich gemacht.

Doch was für den Rückblick gilt, für den Blick voraus wird das schwierig. Natürlich ist für Gott nichts unmöglich, aber könnte man wirklich sagen: „Ich glaube, also wird Gott all das, was ich erstrebe, möglich machen?“ Kann und muss ich als Mensch alles vollenden, was ich mir vorgenommen und begonnen habe? Hat nicht Gott vielleicht anderes mit mir vor? Ist es nicht gerade ein Zeichen des Glaubens und Vertrauens, das, was kommt, für die Möglichkeiten Gottes mit mir offen zu halten. Der Heilige Franziskus von Assisi wollte täglich neu Gottes Willen für sich erforschen. Als sein Ende nahte, war noch Vieles, was er sich erträumt hatte, offen geblieben. Und dennoch waren seine letzten Worte nach Thomas von Celano folgende: „Ich habe das meine getan, was euer ist, möge euch Christus lehren!“

Mose am Gipfel des Nebos mit Blick auf die Palmen des gelobten Landes, Franziskus in Assisi auf dem bloßen Boden bei St. Maria degli Angeli – beide erfahren, dass es im Leben einen Punkt gibt, an dem nicht mehr alles möglich ist, eine Stunde, in der auch Gott mir nicht ermöglicht, alles selbst zu vollenden. Und dennoch scheiden Mose und Franziskus im Frieden im Vertrauen auf Gott, für den nichts unmöglich ist. Es ist ein Geschenk, sagen zu können: „Mein Weg in dieser Welt ist nun zu Ende. Ich vertraue darauf, dass Gott mir nun den letzten unmöglichen Weg öffnen wird in ein neues Leben. Für Gott ist nichts unmöglich. Und nun ist es Euer Weg, zu vollenden, was ich in dieser Welt begonnen habe, weiterzugehen und weiterzugeben, Generation für Generation, bis Gott einmal diese Welt vollenden wird. Ich habe das meinige getan, nun seid Ihr am Zug!

Robert Ischwang

Diözesan-Altenseelsorger