Es ist ein ganz besonderer Moment, ein einmaliger Augenblick, den Giotto di Bodone in einem Fresko der Arenakapelle in Padua festgehalten hat, der Evangelist Johannes beschreibt ihn im 20. Kapitel seines Evangeliums. Schreckliches ist zuvor geschehen in Jerusalem: Jesus wurde am Kreuz hingerichtet und anschließend in ein Grab gelegt. Alle hatten das gesehen, insbesondere die Apostel, und miterlebt, wie ihre großen Erwartungen an Jesus und eine wunderbare Zukunft in kürzester Zeit zerborsten sind. Jetzt tritt eine Frau aus dem Hintergrund des Evangeliums, Maria von Magdala, die Jesus ganz besonders verbunden war. In ihrer tiefen Trauer besucht sie frühmorgens das Grab und findet es leer vor. Natürlich müssen nun – der Zeit geschuldet – noch zwei Männer herbeigerufen werden, um das auch mit ihren Augen zu bezeugen. Aber eigentlich braucht dieser Moment weder den flinken Jünger noch den hinterherschnaufenden Petrus, denn die machen sich sofort wieder auf den Rückweg nach Hause.
Das Entscheidende für Maria geschieht jetzt – und es geschieht so, wie ich es einige seltene Male auch in meinem Leben erfahren habe, mitten aus dem Alltag heraus, etwas verwirrend, eine Ahnung, ein Moment, ein Augenblick, in dem mir etwas ganz Besonderes aufgegangen ist. So auch bei Maria von Magdala: Sie trauert, sie weint, sie ist in Gedanken ganz bei ihrem großen Verlust, der ihr gleichsam den „Boden unter den Füßen“ weggezogen hat. Alles ist vorbei, jede Hoffnung verloren, es wird nie mehr so sein wie bisher. Und genau in diesem Moment nimmt sie etwas ganz Eigenartiges war: zwei Männer in weißen Gewändern, vom Evangelisten als Engel gedeutet, und einen Mann, den sie vom Aussehen her und im Umfeld der Grabanlage für einen Gärtner hält. Erst als er sie bei ihrem Namen „Maria“ nennt, erkennt sie mit dem Herzen die Wahrheit: Er ist es, er lebt, er ist aus dem sicheren Tode wieder auferstanden, es gibt eine Zukunft, das Gute und das Leben haben am Ende gesiegt, auch ich habe eine Zukunft, auch ich kann Hoffnung haben. Ein Moment, ein Augenblick, in dem ihr plötzlich alles klar wird – und sie vor Glück nur hervorbringen kann: „Rabbuni“, Meister.
Und schon ist der Moment vorbei! „Halte mich nicht fest“, sagt Jesus noch: „Noli me tangere.“
Das ist es ja an den besonderen Momenten, dass sie nur kurz sind, dass wir sie nicht festhalten können, aber dass sie möglicherweise unser ganzes weiteres Leben verändern können. Ein Moment, der nur für Maria wahrnehmbar war und in dem doch Entscheidendes geschieht: Sie wird zur ersten Zeugin der Auferstehung, weil nur sie in ihrer tiefen Trauer diesen Moment so erfahren konnte. Weder die Wachen, die Giotto um das Grab herum schlafen lässt, noch die Apostel, die es eilig haben, wieder nach Hause zu kommen, können diesen Augenblick wahrnehmen. Ein Augenblick, in den Giotto malerisch so viel hineinlegt: was zwischen ihnen unsichtbar geschieht, ihre Verbundenheit, Glaube, Liebe, Hoffnung. Ein kostbarer und zerbrechlicher Moment. Jesus geht seinen Weg weiter und Maria bleibt erst einmal zurück, doch nun erfüllt mit neuer Kraft und Hoffnung.
Es sind diese Augenblicke im Leben, in denen etwas Besonderes aufleuchtet, diese flüchtigen, aber kostbaren Momente – gerade auch in den Zeiten des Lebens, in denen wir schwere Wege gehen. Die besonderen Begegnungen mitten im Alltag. Der Moment des Innehaltens, in dem sich Augen finden oder ein Wort mich trifft, das stille Zuhören, vielleicht auch das letzte gegenseitige Halten der Hand am Sterbebett. Fragile und kostbare Momente, in denen mich Großes und noch Größeres berührt, und die mich auf neue Weise weiterleben lassen.
Ostern 2023 erleben wir in einer Welt, in der die Coronapandemie immer mehr an Bedeutung für den Alltag verliert. Andere, nicht für möglich gehaltene Gewalttaten, prägen seit einem Jahr unser Leben in Europa und in der Welt. Und wieder scheinen die Mächte von Hass, Gewalt und Tod die Oberhand zu gewinnen – wie in den Tagen um Ostern vor knapp 2000 Jahren.
Gerade für diese Tage in solchen Zeiten wünsche ich Ihnen diese kurzen Augenblicke und Momente, wie Maria von Magdala sie erlebt hat. Auch wenn wir sie nicht festhalten können, mir geben sie Kraft und Zuversicht, mutig und voll Hoffnung in diese Zeit hinauszuschreiten.
Robert Ischwang
Diözesan-Altenseelsorger