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 „Die westliche Welt wird immer eintöniger“ (Interview mit Tobias Haberl)

In seinem liberal-urbanen Milieu ist der Journalist Tobias Haberl ein Außenseiter, denn er glaubt an Gott. Ein Gespräch über eine Gesellschaft, der das Wesentliche vorenthalten wird;

Jan Grossarth Tobias Haberl, 49, ist ein urbaner Typ: Journalist, Münchner, studiert. Doch in einem Punkt unterscheidet er sich von seinem städtischen Umfeld: Haberl ist gläubiger Christ. Über diese Erfahrung hat er nun ein Buch geschrieben und es „Unter Heiden“ (btb, 288 Seiten, 22 Euro) genannt. Untertitel: „Warum ich trotzdem Christ bleibe“. Ein Gespräch mit einem Außenseiter.

WELT: Wann war es Ihnen zuletzt so richtig peinlich, katholisch zu sein?

Tobias Haberl: War mir mein Glaube jemals peinlich? Nein, ich glaube nicht.

WELT: Früher, als Kind?

Haberl: Auch nicht. Er war ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Ich wuchs in der Provinz im Bayerischen Wald auf. Man war dort kein Sonderling, wenn man in die Kirche ging. Getuschelt wurde über diejenigen, die es wieder mal nicht in die Messe geschafft haben. Erst Kirche, dann Wirtshaus, das war der heilige Sonntag.

WELT: Erinnerungen eines 49-Jährigen – aber sie klingen wie aus einer anderen Zeit. An einer Stelle in Ihrem aktuellen Buch „Unter Heiden“ schreiben Sie, dass Sie als Jugendlicher nicht mitgesungen haben in den Messen. War da also doch etwas Peinlichkeit?

Haberl: Ah, stimmt. Ich habe die Lieder zwar im Gotteslob aufgeschlagen, aber nicht mitgesungen. Das wäre mir vor meinen Freunden unangenehm gewesen – aber nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des Singens. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich von Religion keine Ahnung. Erst viel später habe ich begriffen, wie die Messbesuche meinem Leben einen Rhythmus gegeben haben. Das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein, auch Teil einer zweitausend Jahre alten Tradition.

WELT: Sie sind wahrscheinlich die letzte Generation, die das so noch sagen kann.

Haberl: Man darf sich nicht täuschen. Es gibt heute mehr Christen auf der Welt als je zuvor, nämlich 2,6 Milliarden. Aber Sie haben recht, in Deutschland gehört der Gottesdienstbesuch nur noch in bestimmten Milieus selbstverständlich dazu. Weniger als zehn Prozent der Kirchenmitglieder besuchen regelmäßig die Messe, bei den unter Dreißigjährigen sind es sogar nur vier Prozent. Ich habe als Junge die letzten Reste der Volkskirche erlebt.

WELT: Wettersegen, Herz-Jesu-Frömmigkeit, Zölibat – alles das geht heute noch?

Haberl: Warum nicht? Unter dem Dach des Glaubens hat vieles Platz, auch vermeintlich Altmodisches, Skurriles und Widersprüchliches. Hier die lateinische Messe, dort ein Taylor- Swift-Gottesdienst. Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt.

WELT: Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, wäre Kirche in Ihrer Sicht ein wirksamer Stachel gegen die Grundüberzeugung der individualistischen Leistungsgesellschaft – dass Lebensqualität mit Schmerz und Leid nichts zu tun habe und im Prinzip jederzeit käuflich sei?

Haberl: Genau. Ich lebe gern im 21. Jahrhundert und genieße seine Errungenschaften, aber anders als viele, die sich von der Technologie die Lösung aller Probleme erhoffen, leugne ich nicht ihre Kehrseite: Entfremdung, Erschöpfung, Vereinzelung, Ängste aller Art. Manchmal habe ich den Eindruck, dass unsere viel gepriesene Freiheit nur darin besteht, unsere Abhängigkeiten permanent zu wechseln, während uns das Wesentliche vorenthalten wird: Rhythmus, Zufriedenheit, innerer Frieden. Der Glaube, das kann man schon so sagen, ist für mich das Gegenteil von Angst.

WELT: Woran leiden Sie?

Haberl: Am Verlust von Poesie, Rätselhaftigkeit, Zweckfreiheit. Alle reden von Vielfalt, aber die westliche Welt wird immer eintöniger, erwartbarer, regulierter. Freiheit und Selbstverantwortung schwinden zugunsten von Bequemlichkeit und Sicherheit.

WELT: Sie sind Autor des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“. Mit diesem geschätzten Medium verbinde ich kunstvoll erzählte Geschichten, vor allem aber Ironie. In Ihrem Buch finde ich die Ironie nicht.

Haberl: Interessant, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Es muss damit zu tun haben, dass im Glauben kein Platz für Ironie ist. Gott ist für mich eine Wahrheit, vielleicht die einzige, die es gibt, und zwar unabhängig davon, ob die Menschen an ihn glauben oder nicht. Natürlich gibt es Humor im Glauben. „Darf man beim Beten rauchen? Nein. Darf man beim Rauchen beten? Natürlich!“ Ein jesuitischer Witz. Ich glaube: Ironie schwächt den Glauben, Humor stärkt ihn.

WELT: Begegnet Ihr Umfeld Ihrem Christsein mit Ironie?

Haberl: Die meisten in meinem Umfeld können nicht nachvollziehen, wie man im 21. Jahrhundert an Gott glauben und vor allem: immer noch in der Kirche sein kann, nach allem, was ans Licht gekommen ist. Viele sagen nicht mal „Kirche“, sondern „dieser Verein“ oder „diese Firma“, mit einem abschätzigen Unterton.

WELT: Deswegen Ihr Buch?

Haberl: Ja, auch. Weil ich gemerkt habe, dass viele keine Ahnung davon haben, was sie eigentlich ablehnen. Das Buch ist eine Einladung, sich auf die strahlende Seite des Glaubens einzulassen, auf die Möglichkeit, dass es Gott wirklich geben könnte. Ich wollte zeigen, wie kostbar der Glaube und die Kirche in einer modernen Gesellschaft sind – als Instanz, die Gemeinschaft ermöglicht und Werte vermittelt, hinter denen keine Interessen stecken. Beim Philosophen Arnold Gehlen steht: „Eine Menschheit, die außer sich nichts Größeres mehr sieht, muss sich selbst umarmen und ihr immer schon wahnhaftes Glücksverlangen von sich selbst erwarten.“ Der gläubige Mensch tut sein Möglichstes und legt den Rest in Gottes Hand – eine äußerst entlastende Strategie.

WELT: Ihr Milieu – die Folie, vor der Sie Ihr Christsein behaupten – ist ein linksliberal- urbanes in München.

Haberl: Ja. Ich arbeite für ein linksliberales Magazin und lebe in einem gentrifizierten Wohlstandsviertel. Sie wissen schon, Medien- und Agenturmenschen, Sneakers, Lastenfahrrad. Nette Menschen, aber eher kirchenkritisch und einen Tick zu sehr davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen.

WELT: Nett – aber Sie schreiben von abschätzigen Blicken, wenn Glaube zur Sprache kommt. Was sind das genau für Blicke?

Haberl: Diese Blicke sind subtil und werden von einem Lächeln begleitet. Man kritisiert oder attackiert mich nicht, das wäre viel zu diskriminierend. Aber ich merke, dass ich als gläubiger Christ von einigen nicht ganz ernst genommen werde, dass sie mich rührend finden.

WELT: Süß?

Haberl: Eher naiv oder weltfremd. Als hätte ich den Sprung in die Gegenwart verpasst oder irgendwas nicht ganz verstanden. Manche finden einen Erwachsenen auf Knien lächerlich. Was für ein Irrtum! „Er muss wachsen, ich muss abnehmen“, sagt Johannes der Täufer über Jesus. Auch darum geht es im Glauben. Selbsthingabe statt Selbstverherrlichung. Weg vom Ego, hin zu Gott, hin zu anderen Menschen. Dazu kommt: Wenn es Gott wirklich gibt, wie sonst sollte man sich ihm bitte nähern?

WELT: Selbst Ihre Freunde nehmen Sie diesbezüglich nicht ernst?

Haberl: Meine engsten Freunde respektieren das, einige wenige sind selbst gläubig. Meistens aber kommt das Thema Glaube gar nicht auf den Tisch. Man kann ein ganzes Leben lang gut miteinander auskommen, ohne darüber zu sprechen.

WELT: Wie empfinden Sie es, wenn Sie belächelt werden?

Haberl: Manchmal ärgert es mich, aber nur kurz, denn ich habe einen Schatz, den die anderen nicht haben. Natürlich kenne auch ich Krisen und Ängste, aber da ist etwas Warmes und Sanftes, auf das ich mich verlassen kann, ein Licht, das irgendwo brennt, in mir oder ganz woanders, manchmal nur schwach und kaum spürbar, aber es geht nicht aus. Es ist ein grandioses Gefühl, sich wahrgenommen zu fühlen, ohne auf sich aufmerksam machen zu müssen.

WELT: Sind es mehr die Blicke oder die Worte, die Sie verletzten – wie „diese Firma“?

Haberl: Es ist die Haltung, die dahintersteht. Dass sich Menschen, die sich selbst für hypertolerant halten, darin einig zu sein scheinen, dass man Priester sehr wohl pauschal abkanzeln darf. Ein Kollege meinte neulich grinsend, dass 75 Prozent aller Priester pädophil seien. Keine Ahnung, woher er die Zahl hat, er hat sie auch nicht ernst gemeint. Aber es ist ein Problem, wenn viele sich nicht mehr vorstellen können, dass es Pfarrer gibt, die Kinder nicht missbrauchen, wenn die Kirche für das Böse schlechthin gehalten wird.

WELT: Kränkt Sie das?

Haberl: Es kränkt mich stellvertretend für alle Kleriker und Laien, die jeden Tag im Namen Jesu Christi Gutes tun, und das sind Millionen. Natürlich ist der Missbrauchsskandal in der Kirche eine Katastrophe. Natürlich hat die Kirche im Umgang damit versagt. Aber wenn niemand mehr die seelsorgerische Arbeit von Priestern anerkennt, ist es eben auch verkehrt. Nur weil Priester eher selten auf Instagram auftauchen, heißt das nicht, dass ihr Engagement keine positiven Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.

WELT: Ihr Kollege findet Sie unkritisch …

Haberl: … und täuscht sich. Ich kritisiere meine Kirche, wenn sie schweigt, wo sie zu reden hätte, ich hadere auch mit ihr, aber differenzierter, weil ich weiß, dass sie nicht von den Männern in den scharlachroten Soutanen, sondern von jedem einzelnen Getauften repräsentiert wird, also auch von mir. Natürlich kann man sich über das Versagen kirchlicher Institutionen beschweren, aber das größte Leid eines Christen liegt immer darin, sich selbst als schlechten Christen zu durchschauen, das sollte man nie vergessen.

WELT: In Ihrem Buch schreiben Sie diese bemerkenswerten Sätze: „Es ist ein belastendes Gefühl, Teil von etwas zu sein, das sich in Auflösung befindet. Es ist, als wäre die eigene Identität bedroht, als müsste man sich schämen oder irgendwie tarnen.“ Wie geht man damit um? Spricht man irgendwann nicht mehr über seinen Glauben? Oder nur noch mit Wenigen?

Haberl: Ich glaube, dass ich deswegen dieses Buch geschrieben habe. Um als gläubiger Mensch besser verstanden zu werden. Oder wenigstens aus den richtigen Gründen abgelehnt zu werden. Ich war ja selbst zwanzig Jahre lang weg von der Kirche. Erst seit einigen Jahren kehrt der Glaube mit Wucht zurück in mein Leben. Er macht mein Leben schöner und gelassener, verleiht ihm eine größere Tiefe und stillt meine unbeschreibliche Lust auf Sinn und Schönheit und Wahrheit.

WELT: Sie schreiben das Buch als naiver Beobachter mit Affinität zum Christentum – so ähnlich sagen Sie es selbst.

Haberl: Ich schreibe, dass mein Zugang zum Glauben eher naiv und instinktiv, nicht analytisch oder akademisch ist.

WELT: Das bedeutet: Vor allem vom Gefühl herkommend, nicht vom Wissen, auch etwas idealisierend?

Haberl: Ich bin kein Theologe und kein Religionslehrer, sondern ein ganz normaler Sünder, der an Gott glaubt.                                                     (aus: DIE WELT vom 01.10.2024)