Quelle: Lucas Wiegelmann in: DIE WELT vom 29.06.2023 —
Die Menschen verlassen die katholische Kirche in Scharen, aber kaum jemanden scheint es zu stören. Im Gegenteil, es gilt fast als ein Gebot der Vernunft: Wer nach dem sexuellen Missbrauchsskandal, dem Gezerre um den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki oder dem verkorksten Reformprozess ”Synodaler Weg” allen Ernstes noch der Kirche die Treue hält, ist selber schuld. Nicht die, die gehen, sind die Dummen, sondern die, die bleiben.
Aber vielleicht gehört das allgemeine Kirchenbashing doch zu den kollektiven Reflexen, die dieser Gesellschaft eines Tages noch leidtun werden. Zumindest dürfte sich der eine oder die andere aus dem Heer der Ausgetretenen irgendwann schon die Frage stellen, welche Folgen es hat, wenn die Kirchen sich eines Tages ganz verflüchtigt haben werden?
Schon jetzt, da nicht einmal mehr jeder zweite Bürger einer christlichen Konfession angehört, ist Deutschland ein Land, in dem ethische Fragen an Bedeutung verlieren. Ein Land, in dem Abgeordnete des nationalen Parlamentes in einem Video zum Song „Short Dick Man“ tanzen, weil sie mal eben das Werbeverbot für Abtreibungen „kicken“ wollen. Ein Land, in dem die AfD in den Umfragen zweitstärkste Kraft ist. Ein Land, in dem jahrzehnte- oder gar jahrhundertealte Kirchen, Kulturgüter ersten Ranges, zu Tausenden verkauft und zweckentfremdet werden, als Studentenheim oder gleich als Kneipe. Ein Land, in dem immer mehr Menschen mit ihren seelischen Nöten nicht mehr fertig werden: Im vergangenen Herbst veröffentlichte das Robert-Koch-Institut (RKI) eine Studie, der zufolge nur noch 40 Prozent der Deutschen ihre allgemeine psychische Gesundheit als „sehr gut“ oder „ausgezeichnet“ bezeichnen – Tendenz sinkend. Ein Land, das von einer miesen Bildungsstudie zur nächsten stolpert, das viele junge Familien bei der Suche nach einer verlässlichen Kinderbetreuung im Regen stehen lässt und das auf jeden Fall eher mehr starke Kita- und Schulträger gebrauchen könnte statt weniger.
Kurz gesagt: Schon jetzt ist Deutschland ein Land, das in vielfacher Weise moralisch, kulturell und geistig verarmt. Kommen diese Defizite nun daher, dass die Kirchen so schwach sind, oder ist es andersherum? Wahrscheinlich ist es schlicht eine Wechselwirkung, beides schaukelt sich gegenseitig hoch. Die mehr als eine halbe Million Menschen, die nun ausgetreten sind, haben mit ihrem Schritt zum Ausdruck gebracht, dass sie das vorerst nicht kümmert. Es wäre im Interesse des Landes, wenn möglichst viele der noch verbliebenen Kirchenmitglieder einen anderen Weg gehen.
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