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Weil es mir wertvoll ist

In einem Schrank meines Arbeitszimmers steht ein bisschen versteckt ein Kästchen. Ein Fremder, der dieses Kästchen öffnen würde, würde ein wenig seine Stirn runzeln: eine alte defekte Taschenuhr mit einem Sprung in der Scheibe, ein paar chirurgische Schrauben, eine Jakobsmuschel, eine kleine Kugel aus Bergkristall und einiges mehr. Es ist meine persönliche Schatzkiste und ihr Inhalt ist mir wertvoll. Er erinnert mich an wichtige Stationen meines Lebens und die Menschen, die mein Leben begleitet haben: meine Großeltern und Eltern, der Skiunfall und die positiven Veränderungen danach, die Santiago-Wallfahrt vor 37 Jahren. Mehrmals im Jahr schaue ich mir die Dinge in meiner Schatzkiste an, sie zeigen mir, was mir wertvoll ist in diesem Leben: meine Familie, die Kinder, die Freunde durch all die Jahre, besondere Reisen und Erlebnisse, mein Zuhause und meine Heimat, die Zeit draußen in der Natur auf dem Fahrrad, im Kajak oder in den Bergen.

Doch es gibt noch etwas anderes, das mir wertvoll ist, mein Glaube und meine „Werte“. Was ich damit meine? Manche werden sich vielleicht noch an die erste Amtseinführung am 21. Januar 2009 des ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, erinnern, als er zum Amtseid seine Hand auf die rote Bibel von Martin Luther King legte, die ihm seine Frau Michelle zum Eid hinhielt. In seiner Rede sagte Barack Obama: „Unsere Herausforderungen mögen neu sein. Die Instrumente, mit denen wir an sie herangehen wollen, mögen neu sein. Aber diese Werte, von denen unser Erfolg abhängt – Ehrlichkeit und harte Arbeit, Mut und „Fair-Play“, Toleranz und Neugier, Loyalität und Patriotismus – diese Dinge sind alt. Diese Dinge sind wahr. Sie sind durch unsere Geschichte hindurch die stille Kraft des Fortschritts gewesen. Was heute gefordert ist, ist die Rückkehr zu diesen Wahrheiten. Was von uns verlangt wird, ist eine Ära der Verantwortung, dass wir Pflichten gegenüber uns selbst haben, gegenüber unserer Nation und gegenüber der Welt.“ (Fußnote 1)

Es sind tatsächlich die Dinge, die über uns selbst und unsere eigenen Bedürfnisse hinausgehen, die unsere Welt zu einer menschlichen Welt machen. Es sind die Dinge, für die es oftmals eine Anstrengung braucht, für die man auch etwas riskieren muss: Mut, Toleranz, Loyalität. Ich würde noch hinzufügen: Gerechtigkeit, Freiheit und freie Rede, Respekt, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, den Verzicht auf Gewalt, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die gleiche Würde aller Menschen auf dieser Welt unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Für manche dieser Werte muss man heute auch bei uns wieder das Wort ergreifen, obwohl sie im Grundgesetz verankert sind, für manche muss man demonstrieren.

Und es sind die Menschen, die heute – auch ohne Rücksicht auf ihre eigenen Bedürfnisse und ihre Sicherheit – für diese Werte einstehen, in Haft gehen, ja sogar kämpfen. Es sind jene, die in den sozialen Medien dafür bedroht und verfolgt werden. Und es sind jene, die dafür sogar den Tod auf sich nehmen. Am 8. Mai werden es 80 Jahre, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Noch heute erinnern wir uns an die, die ihre Stimme gegen das Unrecht erhoben, Menschen wie Pater Rupert Mayer oder Karl Leisner. Viele der Aufrechten, die für den Glauben und ihre Werte eingetreten sind, wurden in den Jahren und in den Monaten, bevor es mit dem Naziregime zu Ende ging, hingerichtet: Pater Maximilian Kolbe, Alfred Delp, Max Josef Metzger, Dietrich Bonhoefer – um nur einige von ihnen zu nennen.

Die Zeiten sind in den letzten Jahren wieder rauer geworden; vieles, was uns in den letzten Jahrzehnten als sicher und gewiss erschien, wird heute in Frage gestellt. Es ist an uns, den nächsten Generationen „weiterzugeben“, was uns wertvoll ist, was uns am Herzen liegt und wofür wir stehen. Von Oscar Wilde wird das Zitat überliefert, ein Zyniker sei ein Mensch, der von jedem Ding den Preis, aber von keinem den Wert kenne. In einer Welt, in der es im Großen scheinbar nur noch um „Deals“, eigene Vorteile und Dominanz geht, kann ein jeder von uns dem persönlich entgegenwirken: durch Wertschätzung, durch Zuhören und Offenheit, durch Zuneigung und Empathie. Denn unsere Werte lassen sich nicht einfach als Katalog weiterreichen, sondern an unseren Haltungen ablesen, wie wir füreinander und für die Dinge dieser Welt einstehen.

Das sind die großen Herausforderungen dieser Zeit für einen jeden von uns, ob älter oder jünger. Denen möchte ich mich stellen, weil es mir wertvoll ist. Und daran soll mich meine Bergkristallkugel in Zukunft erinnern.

Robert Ischwang

Diözesan-Altenseelsorger

(1) https://obamawhitehouse.archives.gov/blog/2009/01/21/president-barackobamas-inaugural-address (ausgelesen am 17.03.2025)