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Die Sehnsucht nach der Stammeszugehörigkeit

ÜBER EINE WELT, DIE GEMEINSCHAFT SUCHT UND DABEI AUSEINANDERFÄLLT

In demokratischen Gesellschaften ist es nie einfach, die Interessen der widerstrebenden Akteure unter einen Hut zu bringen. Jede Balance ist prekär, aber gerade die Dynamiken, die bei der Suche nach einer gemeinsamen Lösung entstehen, machen die Freiheitsgrade der Vielen aus. Letztlich liegt es an uns, wie wir die eigene moralische Orientierung und unsere persönliche Informationspolitik verantworten. Wahr bleibt aber auch: Wir können den autoritären Versuchungen widerstehen und dem kalten Hauch der Unterwerfung entkommen. Das kann doch nicht wahr sein!? Und ob: Lügen werden zu alternativen Fakten erklärt, Falschnachrichten rasend verbreitet, bizarre Verschwörungen ausgerufen. In den letzten Jahren haben populistische Bewegungen und Regierungen die politische Meinungsbildung weltweit erobert und mitbestimmt.

Angst essen Seele auf – Zorn und Aufregung bestimmen, was gilt, sie sind die profitablen Treiber der Aufmerksamkeit in den digitalen Öffentlichkeiten. Die gute Story, der prägnante Auftritt der Anführer geht über klassische Kriterien der Wahrheitsfindung. Modernisierte Machttechniken der Propaganda und die datenhungrigen Technologien der globalen Internetkonzerne befeuern sich dabei gegenseitig. Das Ganze ist autoritärer politischer Surrealismus. Es könnte komisch sein, wenn es nicht so gewalttätig und gefährlich wäre.

Die offenen Gesellschaften sind dem nicht hilflos ausgeliefert, es gibt Gegenbewegungen. Der Blick in die Arenen der Wahrheitsfindung lohnt sich dafür. Das beginnt im persönlichen Umfeld, wo Freundschaften Streit einhegen und ihm das Unerbittliche nehmen können. Wir lernen so im Alltag, wie wir Widersprüche und komplexe Situationen verstehen und aushalten können. Die eigenen Haltungen und Wertungen offen zu vertreten und kritisch zu hinterfragen verlangt Mut und ist selten bequem. Streit so zu organisieren, dass es für die Beteiligten annehmbare Lösungen gibt, formt unsere Haltungen in persönlichen Beziehungen.

Die Beleuchtung der eigenen Familiengeschichte und deren dunklen Seiten ist verwandt mit den Neubestimmungen der nationalen Geschichte jenseits kolonialistischer und rassistischer Vorurteile. Die Wahrheitskommissionen bilden faszinierende Versuche, Gewaltgeschichte und unversöhnliche Feindschaften zugunsten des Friedens und der eigenen Zukunftsgestaltung zu verarbeiten. Die Rechtsprechung zeigt, wie in der fragilen Balance von Wahrheit und Gerechtigkeit Entscheidungen getroffen werden und sich zu bewähren haben.

Die klassischen geistigen Autoritäten – Wissenschaften, Religionen und Philosophien – haben eine lange Geschichte des Streits um die Begriffe der Wahrheit und die Regeln der Wahrheitsfindung. Diese Suchbewegungen können wir immer wieder neu entdecken und so unsere Vorstellungen von Wahrheit prüfen. Dabei sind die Geltungsbereiche unbestreitbarer, fixer Wahrheiten erfahrungsgemäß eher eng. Oft landet man im Dilemma oder ist mit den unvorhergesehenen Folgen getroffener Entscheidungen konfrontiert.

Simon Rapp, Pfarrer in der Pfarreiengemeinschaft Ostufer Ammersee